Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Energie- und Verkehrswende in der Energiekrise – was bewegt die Menschen in Deutschland?

05.10.2022

Überlagert die aktuelle Energiekrise die Notwendigkeit ambitionierter Klimapolitik? Die Menschen in Deutschland wollen weiter an der Energiewende festhalten – trotz gestiegener finanzieller Belastungen. Mehr noch: Die Transformation zur Klimaneutralität ist ihnen gerade vor dem Hintergrund hoher Energiepreise wichtiger denn je und muss aus ihrer Sicht weiter an Tempo aufnehmen. Das zeigt die jährliche repräsentative Befragung von deutschlandweit mehr als 6.500 Personen zu Themen der Energie- und Verkehrswende, durchgeführt im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts Ariadne. In diesem Jahr wurden im „Sozialen Nachhaltigkeitsbarometer 2022“ auch die Meinungen der Bürgerinnen und Bürger zur Energiepreiskrise im Kontext der Klimawende eingefangen.

Titelseite  Soziales Nachhaltigkeits Barometer 2022

Ergebnisse der Panelstudie des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers 2022 im Diskurs

Die durch den Angriff von Russland auf die Ukraine ausgelöste Energiekrise stellt nicht nur die Menschen in Deutschland vor besondere finanzielle Herausforderungen – auch der Klimaschutz scheint in den Diskussionen um mögliche Laufzeitverlängerungen von Kohle- und Atomkraftwerken mitunter in den Hintergrund zu treten. Dabei zeigen jetzt veröffentlichte Zahlen des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers, das von einem Team des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Zusammenarbeit mit forsa durchgeführt wurde, dass die Zustimmung zu Energie- und Verkehrswende trotz steigender Preise und Unsicherheiten in der deutschen Bevölkerung weiter zunimmt: 70 Prozent der befragten Menschen sprechen sich für den Ausbau Erneuerbarer Energien, beschleunigt durch einfachere Verfahren, und damit einer Sicherung der Energieversorgung in Deutschland aus.

„Grundsätzlich wünschen sich zwei Drittel der befragten Menschen mehr und gezieltere Maßnahmen für den Klimaschutz,“ hält IASS-Wissenschaftler Ingo Wolf fest. „Gleichzeitig kommen immer mehr Menschen aufgrund der steigenden Energiepreise an ihre finanziellen Grenzen. Die Ergebnisse des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers zeigen auf, welchen Herausforderungen die Menschen in Deutschland vor dem Hintergrund der aktuellen Energiekrise gegenüberstehen und welche konkreten Maßnahmen sie von der Politik erwarten.“

Schnellere und bessere Verkehrswende gewünscht

Der Vergleich mit den Ergebnissen aus der Befragung im vergangenen Jahr zeigt auch, dass zum Beispiel das Interesse an der Verkehrswende von 73 Prozent auf 79 Prozent leicht gestiegen ist und mehr Menschen diese durch eigenes Handeln mitgestalten wollen. Gleichzeitig wächst bei den Menschen das Gefühl der Belastung durch höhere Mobilitätskosten und die Ungeduld an der Politik: Mehr als 60 Prozent der Befragten sind mit den Fortschritten in der Verkehrswende unzufrieden (2021: 55 Prozent). Die Zahl der Menschen, welche die geplanten Maßnahmen für die Verkehrswende für nicht zielführend halten, hat sich von 23 Prozent in 2021 auf 40 Prozent in diesem Jahr fast verdoppelt.

Belastungen der gestiegenen Energiekosten gerechter verteilen

Noch deutlicher wird den Befragten die aktuelle Krise durch die gestiegenen Energiekosten: Fühlten sich 2021 noch 28 Prozent der Menschen von den Heizkosten belastet, sind es in diesem Jahr bereits 43 Prozent. Der Anteil der Menschen, die auf eine günstigere Energieversorgung durch Erneuerbare hoffen, steigt auf 35 Prozent (2021: 26 Prozent). Zur finanziellen Entlastung von privaten Haushalten bei steigenden CO₂-Preisen befürwortet die Hälfte der Befragten eine Rückerstattung gezielt an einkommensschwächere Haushalte. Eine pauschale Rückzahlung an alle Bürgerinnen und Bürger in gleicher Höhe unterstützen etwas mehr als einem Drittel. Gleichzeitig hat eine deutliche Mehrheit (62 Prozent) wenig bis kein Vertrauen in die Politik, dass die Einnahmen aus dem CO₂-Preis an die Bevölkerung weitergegeben werden.

„Die Politik sollte trotz gerade überlappender Krisen jetzt nicht nachlassen, die geplanten Maßnahmen für den Klimaschutz umzusetzen,“ mahnt Ortwin Renn vom IASS. „Die Ergebnisse des Barometers können als Unterstützung und Aufforderung von der Bevölkerung an die politischen Vertreterinnen und Vertretern verstanden werden, die Krisen nicht gegenseitig auszuspielen, sondern im Sinne des Gemeinwohls Energiesouveränität und Klimaschutz gemeinsam zu sehen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen.“

Wie die IASS-Forschenden die Ergebnisse einordnen:

Ko-Autor Jean-Henri Huttarsch vom IASS: „Die Ergebnisse des Barometers stimmen mich hoffnungsvoller als manch ein Eindruck, den man teilweise in sonstigen Berichterstattungen gewinnt. Für den Erfolg von Energie- und Verkehrswende sind dringend weitere Maßnahmen notwendig und die Bürgerinnen und Bürger sind bereit für diese, solange deren Kosten und Nutzen in der Gesellschaft gerecht verteilt werden – verständlicherweise.“

Ko-Autorin Benita Ebersbach vom IASS: „Die Ergebnisse zeigen, dass die Bereitschaft der Menschen die großen Transformationsprozesse unserer Zeit zu unterstützen, größtenteils vorhanden ist. Es muss nun geschafft werden, diese Bereitschaft in tatsächliches, konsequentes Handeln umzuwandeln. Dabei kann das Soziale Nachhaltigkeitsbarometer Ansatzpunkte liefern, welche Maßnahmen eher akzeptiert und welche Überzeugungen in der Bevölkerung geteilt werden.“

Was ist das Soziale Nachhaltigkeitsbarometer?

Im Kopernikus-Projekt Ariadne werden mithilfe des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers der Energie- und Verkehrswende die gesellschaftlichen Dimensionen dieser Transformationsprozesse untersucht. Auf Basis einer bundesweit repräsentativen Online-Panelbefragung werden Einstellungen, Anliegen und Bewertungen der deutschen Bevölkerung zur Ausgestaltung und Umsetzung der Energie- und Verkehrswende im einjährigen Abstand zunächst für drei Jahre erhoben. Dies ermöglicht ein Monitoring von Entwicklungen und Veränderungen dieser sowie direkte Bezüge zu bestimmten Politikmaßnahmen und gesellschaftlichen Ereignissen. Zudem können durch die detaillierte Erfassung der soziodemografischen, psychologischen und Verhaltensmerkmale der mehr als 6.500 befragten Bürgerinnen und Bürgern eine Vielzahl von sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen untersucht werden.

Die erste Erhebungswelle erfolgte im ersten Quartal 2021. Die Feldphase der zweiten Welle wurde kurz nach Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs im April 2022 beendet und die dritte Welle ist für das erste Quartal in 2023 geplant. Die Ergebnisse sollen dazu dienen, die politische Entscheidungsfindung und Prioritätensetzung zu unterstützen.

Die Ergebnisse der Erhebungswelle 2022 sind nun als Broschüre und über den neu entwickelten, interaktiven Datenexplorer einzusehen. Diverse schwerwiegende gesellschaftliche und politische Ereignisse haben sich seit der letzten Befragung 2021 ereignet, deren Auswirkungen auf die Einstellungen der Menschen in Deutschland untersucht wurden. Zu diesen und anderen Themen können Sie spannende Einsichten über unseren Datenexplorer selbst entdecken. Dort finden Sie beispielsweise in der Dimension Akzeptanz Antworten auf Fragen wie: Welchen Einfluss hat die aktuelle Energiekrise auf die Haltung der Menschen in Deutschland gegenüber der Energie- und Verkehrswenden? Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger vor dem Hintergrund deutlich gestiegener Energiekosten von der Politik? Wie bewertet die Bevölkerung die Ziele und Maßnahmen der neuen Bundesregierung?

Soziale Ziele der Nachhaltigkeit müssen bedacht werden

Der Ausbau klimafreundlicher Energieerzeugung und Mobilität verändert auf grundlegende Weise den Alltag der Menschen. Für das Gelingen der Energie- und Verkehrswende wird es entscheidend sein, die sozialen Ziele der Nachhaltigkeit wie Gerechtigkeit, Beteiligung und Sozialverträglichkeit zu berücksichtigen. Soziale Nachhaltigkeit ist als ein positives Leitbild der Gestaltung der Transformationsprozesse zu verstehen. Es zielt darauf ab, die Energie- und Verkehrswende an den Vorstellungen, Bedürfnissen und Wertevorstellungen der Bürgerinnen und Bürger zu orientieren sowie sozial gerechte und faire Lösungen bei deren Umsetzung zu finden.

Mit dem Sozialen Nachhaltigkeitsbarometer der Energie- und Verkehrswende werden der Zustand und die Entwicklungen im Bereich der sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit aus Sicht der Bevölkerung in Deutschland untersucht. Wie denken die Bürgerinnen und Bürger über die Energie- und Verkehrswende und deren Gestaltung? Welche Vorstellungen haben die Menschen von einer gerechten Gestaltung des Wandels? Welche Probleme und Herausforderungen sehen sie in der Umsetzung der Transformationsprozesse? Unter welchen Bedingungen können sie sich vorstellen, sich an den Transformationsprozessen zu beteiligen und mitzuwirken?

Das Barometer ist in Ariadne in einen umfassenden Dialogprozess mit der Zivilgesellschaft eingebunden. Die in Fokusgruppen von ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern geäußerten Ansichten, Werte und Erfahrungen zu energie- und verkehrspolitischen Themen fließen in die Entwicklung des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers ein. Die Ergebnisse aus der Panelbefragung werden in einem nächsten Schritt in die Arbeiten zur Ausgestaltung von Politikoptionen zur Strom- und Verkehrswende in Ariadne aufgenommen.

Panelstudie um Aspekt der Verkehrswende erweitert

Aufbauend auf den Vorarbeiten des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers der Energiewende der Jahre 2017 bis 2019 wurde das Konzept der sozialen Nachhaltigkeit weiterentwickelt und um den Anwendungsbereich der Verkehrswende erweitert. Das erweiterte Konzept umfasst fünf verschiedene Dimensionen mit jeweils vier Indikatoren. Die Fragen des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers lassen sich jeweils einem Indikator zuordnen.

  1. Gesellschaftliche Akzeptanz: Für das Gelingen der Energie- und Verkehrswende ist die gesellschaftliche Verankerung durch soziale Akzeptanz entscheidend. Allgemeine Einstellungen zur Energie- und Verkehrspolitik ist einer der vier Indikatoren dieser Dimension. Im weiteren Indikator sozio-politische Akzeptanz wird unter anderem der Grad der Zustimmung zu politischen Zielen und konkreten Maßnahmen auf Bundesebene erfasst. Einstellungen zu lokalen Infrastrukturmaßnahmen bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort sind Inhalt des Indikators der lokalen Akzeptanz. Ebenfalls ist bei dieser Dimension von Interesse, inwieweit die Bevölkerung die Transformationsprozesse mit ihrem Handeln mittragen und ob und in welchen Bereichen die Menschen Konsum- und Verhaltensweisen geändert haben oder sich dies vorstellen können (Indikator Verhaltensakzeptanz).
  2. Beteiligung: Politische Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten bieten den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, ihre eigenen Vorstellungen und Bewertungen im Hinblick auf die Umsetzung und Ausgestaltung der Energie- und Verkehrswende einzubringen. Ein Indikator dieser Dimension ist die aktive und gewünschte Beteiligung und erfasst den Bedarf an Partizipationsmöglichkeiten. Die Wahrnehmung und Bewertung lokaler Beteiligungsprozesse sowie die Bewertung der allgemeinen Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten sind zwei weitere Indikatoren. Unter dem Indikator der politischen Selbstwirksamkeit wird untersucht, ob die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, selbst Einfluss auf den politischen Prozess ausüben zu können.
  3. Soziale Kohäsion: Die Umstellung auf eine dezentrale Energieerzeugung und auf neue nachhaltige Mobilitätskonzepte erfordert einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt und stellt gleichzeitig eine große Herausforderung für ebendiesen dar. Vertrauen in die zentralen Akteure sowie sozialer Zusammenhalt und Konflikte im Kontext der Energie- und Verkehrswende in den Kommunen sind hierbei wesentliche Indikatoren, um den sozialen Zusammenhalt zu bewerten. In der Gesellschaft vorherrschende Normen und Werte stellen einen weiteren Indikator der Dimension soziale Kohäsion dar. Im Hinblick auf das soziale Gefüge werden zudem die Ortsverbundenheit und soziale Identität der Bürgerinnen und Bürger untersucht.
  4. Lebensqualität: Durch die Energie- und Verkehrswende soll die Lebensqualität der Bevölkerung verbessert werden. Zur Untersuchung dieser Dimension werden die Indikatoren erwartete Umwelt- und wahrgenommene Gesundheitsauswirkungen des bestehenden und zukünftigen Verkehrs- und Energiesystems sowie die Bewertung der Umweltqualität erhoben. Die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung ist ein weiterer Indikator der Dimension Lebensqualität.
  5. Sozio-ökonomische Sicherheit: Die durch die Transformationsprozesse anfallenden (ökonomischen) Kosten und veränderten wirtschaftlichen Strukturen können zur Folge haben, dass die sozioökonomischen Bedürfnisse der Bevölkerung derzeitig oder zukünftig nicht hinreichend gedeckt werden. Zentrale Indikatoren für diese Dimension sind unter anderem die Wahrnehmung der Befragten zu ihrer aktuellen wirtschaftlichen Situation und zukünftig erwarteten wirtschaftlichen Auswirkungen, insbesondere im Hinblick auf Arbeitsplatzsicherheit sowie die finanzielle Belastung durch Energie- und Mobilitätskosten. Unter dem Indikator Fairness wird darüber hinaus erfasst, inwieweit die Verteilung von Kosten und Nutzen energie- und verkehrspolitischer Maßnahmen in der Bevölkerung als fair und gerecht wahrgenommen wird. Schließlich ist von Interesse, in welchem Ausmaß die Menschen in Deutschland Zugang zu klimafreundlicher Energie und Mobilität haben (Indikator Ressourcenzugang).

Download der vollständigen Broschüre "Soziales Nachhaltigkeitsbarometer der Energiewende 2022".

Die Daten des "Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers" interaktiv erkunden.

Kontakt

Ingo Wolf

Dr. Ingo Wolf

Senior Wissenschaftlicher Mitarbeiter
ingo [dot] wolf [at] rifs-potsdam [dot] de
Jean-Henri Huttarsch

M. Sc. Jean-Henri Huttarsch

Wissenschaftlicher Mitarbeiter
jean-henri [dot] huttarsch [at] rifs-potsdam [dot] de
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M. Sc. Benita Ebersbach

Wissenschaftliche Mitarbeiterin
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Sabine Letz

M. A. Sabine Letz

Referentin Presse
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