Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Es ist an der Zeit: Wir müssen unsere Ambitionen für „sichere“ Luftverschmutzungswerte erhöhen

06.09.2024

Seán Schmitz

Dr. Seán Schmitz

sean [dot] schmitz [at] rifs-potsdam [dot] de
Wie gut ist die Luft, die wir atmen? Fortschritte bei der Verbesserung der Luftqualität sind gut für unsere Gesundheit, unsere Ökosysteme und die Landwirtschaft und tragen zur Eindämmung des Klimawandels bei.
Wie gut ist die Luft, die wir atmen? Fortschritte bei der Verbesserung der Luftqualität sind gut für unsere Gesundheit, unsere Ökosysteme und die Landwirtschaft und tragen zur Eindämmung des Klimawandels bei.

Die Luftqualitätsnormen der EU entsprechen nicht den Empfehlungen der WHO, und auch die Pläne zur Aktualisierung der Normen reichen nicht aus. Um saubere Luft für die Menschen in Europa zu gewährleisten, ist mehr Engagement erforderlich. Dazu gehören groß angelegte Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen und zur Änderung der Mobilitätsgewohnheiten.

Um zu verstehen, wo wir in Deutschland in puncto Luftqualität stehen, müssen wir zunächst die Entwicklungen der letzten Jahre Revue passieren lassen, bevor wir einschätzen können, was auf uns zukommt.

Schließen Sie die Augen und drehen Sie das Rad zurück ins Jahr 2018. Sie schalten die Abendnachrichten ein, die Moderatorin liest eine der Schlagzeilen des Tages vor: „Dieselfahrverbote in deutschen Städten infolge der Nichteinhaltung der Luftqualitätsstandards.“ Autofahrer*innen schaudern, Radfahrer*innen und Fußgänger*innen jubeln.

Die Frage ist, was davor und seitdem geschehen ist.

Das Kernthema des Jahres 2018 war die vom Europäischen Gerichtshof festgestellte Nichteinhaltung der in der europäischen Luftqualitätsrichtlinie festgelegten Luftqualitätsstandards in Deutschland. Als Reaktion auf die laufenden Gerichtsverfahren übte die Bundesregierung Druck auf die Bundesländer und damit auch auf die Kommunen aus, um schnelle Lösungen zur Verbesserung der Luftqualität umzusetzen. Und voila: Wir bekamen Fahrverbote für Dieselfahrzeuge auf Straßen mit hoher Luftverschmutzung in auffälliger Nähe von Luftqualitätsmessstellen.

Seitdem hat sich die Luftqualität in Deutschland in vielen dieser Städte kontinuierlich verbessert, und in den letzten Jahren wurden an deutlich weniger Messstellen Grenzwertüberschreitungen gemeldet. Die Messungen in Berlin verdeutlichen diesen Trend: An keiner der 17 Messstellen wurde seit 2020 der Jahresmittelgrenzwert von 40 µg/m³ für Stickstoffdioxid (NO2) überschritten. 

Es gibt nur ein Problem: Wir haben die falschen Standards verwendet. 

Die Richtlinie 2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft für Europa (Ambient Air Quality Directive, AAQD) legte die Luftqualitätsnormen auf der Grundlage der zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Erkenntnisse und der Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fest. Dies führte zur Festlegung der Luftqualitätsnormen, die nun seit fast zwei Jahrzehnten gelten. Diese schienen vernünftig zu sein, bis die WHO ihre Luftqualitätsrichtlinien im Jahr 2021 im Einklang mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen aktualisierte.

Die inzwischen vorliegenden umfangreichen Forschungsergebnisse, die größtenteils auf Längsschnittstudien mit über Jahrzehnte erfassten Daten beruhen, zeigen, dass fast kein Verschmutzungsgrad sicher ist. Tatsächlich sind einige der stärksten gesundheitlichen Auswirkungen bei niedrigen Konzentrationen zu beobachten. Aus diesem Grund hat die WHO in ihrer Revision für 2021 einige der empfohlenen Luftqualitätswerte drastisch gesenkt; für NO2 von 40 µg/m³ auf 10 µg/m³ im Jahresdurchschnitt.

Die Politik in Deutschland folgt noch immer der Richtlinie 2008/50/EG und würde daher einen Messstandort, der einen Jahreswert von 39 µg/m³ für NO2 meldet, als „gut“ einstufen. Nach den neuen WHO-Empfehlungen und den verfügbaren Erkenntnissen, wonach keine NO2-Belastung sicher ist, ist dieser Wert „schlecht“. Zum weiteren Kontext: Im Jahr 2023 meldeten nur zwei Luftqualitätsmessstationen in ganz Deutschland Überschreitungen des EU-Grenzwerts für NO2. Im Gegensatz dazu überschritten 74 Prozent aller Stationen den neuen, von der WHO empfohlenen sicheren Wert für NO2-Belastung.

Es ist an der Zeit, dass wir unsere Ambitionen für die Einhaltung „sicherer“ Luftverschmutzungswerte erhöhen.
Dankenswerterweise hat die Europäische Kommission in den letzten Jahren an einer Überarbeitung der AAQD gearbeitet, die im April dieses Jahres vom Europäischen Parlament gebilligt wurde und nun auf die Annahme durch den Europäischen Rat wartet, damit sie in Kraft treten kann. Alle Mitgliedstaaten sind verpflichtet, diese innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Verabschiedung in lokales Recht umzusetzen.

Ein wichtiger Aspekt dieser überarbeiteten AAQD sind strengere Luftqualitätsgrenzwerte für die meisten wichtigen Schadstoffe, einschließlich Feinstaub (PM) und NO2. Das einzige Problem ist, dass das Bestreben, sich an die Revisionen der WHO anzupassen, bei den Verhandlungen über das Gesetz gescheitert ist. Der neue Jahresgrenzwert für NO2 wird 20 µg/m³ betragen und damit doppelt so hoch sein wie der von der WHO empfohlene Wert. 

Was bedeutet das?

Kurz gesagt, allein durch die Verschiebung der gesetzlichen Messlatte für „sichere“ Luftverschmutzungswerte werden wir das Thema Luftqualität in Europa für die nächsten fünf bis zehn Jahre auf die Agenda setzen. Da in der überarbeiteten Richtlinie festgelegt ist, dass die neuen Verschmutzungswerte bis Januar 2030 erreicht werden müssen, werden sich die Mitgliedstaaten bemühen, ihre Luftqualitätsmanagementpläne anzupassen. Die neue Richtlinie sieht vor, dass diese Frist verlängert werden kann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, allerdings nur vorübergehend und unter der Bedingung, dass sie ihre Luftqualitätsmanagementpläne regelmäßig und ehrgeizig überarbeiten. 

Mit diesem Schritt erkennt die EU erfreulicherweise an, dass sie noch einen weiten Weg vor sich hat, um ihre Ziele für eine Nullverschmutzung bis 2050 zu erreichen. Aber die Anerkennung reicht nicht aus. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger brauchen substanzielle Maßnahmen, um nach Jahrhunderten der Verschmutzung endlich saubere Luft atmen zu können. 
Wie jüngste Studien gezeigt haben, können gezielte Maßnahmen wie Straßensperrungen oder neue Radwege die NO2-Belastung lokal verringern, während sie auf die Feinstaubkonzentration kaum Einfluss haben. Aber das sind nur Notlösungen für ein chronisches Problem. Was wir brauchen, vor allem in Großstädten, sind umfassende, groß angelegte Maßnahmen, die die Emissionen reduzieren und eine Änderung der Mobilitätsgewohnheiten fördern. Die Maßnahmen sollten eine Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche sein, um eine Abkehr vom Individualverkehr hin zu mehr öffentlichen Verkehrsmitteln und einer sicheren Fahrradinfrastruktur zu fördern, und in den Fällen, in denen das Auto eine Notwendigkeit ist, eine Umstellung auf abgasfreie Fahrzeuge wie Elektrofahrzeuge und Busse. Wir müssen auch etwas gegen die langfristige Umweltverschmutzung durch Kohlekraftwerke und die industrielle Landwirtschaft unternehmen, indem wir fossile Brennstoffe aus unserer Energieversorgung streichen und den Einsatz von Industriedüngern reduzieren.

Es reicht nicht aus, uns auf die Schulter zu klopfen, dass wir endlich „gute“ Luftverschmutzungswerte erreicht haben, wenn wir uns dabei auf hochgradig politisierte, auf Fehlinformationen beruhende Standards stützen. Einige, wie die konservative ehemalige Berliner Verkehrssenatorin, brüsten sich mit den vermeintlichen Erfolgen und schlagen sogar vor, die Geschwindigkeitsbegrenzungen von 30 auf 50 km/h zu erhöhen, nachdem diese veraltete Luftqualitätsrichtwerte erreicht wurden. Das entbehrt jeglicher Grundlage, ignoriert andere Vorteile niedrigerer Geschwindigkeiten, wie z.B. Sicherheitsaspekte, und ist ehrlich gesagt einfach peinlich. 

Es ist klar, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte bei der Verbesserung der Luftqualität in den Städten gemacht hat. Der Weg ist jedoch noch lang und wir können uns keinen Verlust an Dynamik leisten. Fortschritte bei der Verbesserung der Luftqualität sind gut für unsere Gesundheit, unsere Ökosysteme und die Landwirtschaft sowie für die Abschwächung des Klimawandels.

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