Wasserstoff vs. Kohlenstoffabscheidung: Warum Europa für Netto-Null beides braucht
28.04.2023
Bei der Dekarbonisierung haben sich die europäischen Länder bisher auf politische Maßnahmen konzentriert, die eine drastische Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien und eine Verbesserung der Energieeffizienz in zahlreichen Sektoren, einschließlich Industrie, Bauwesen und Wohnungsbau, fördern. Jedoch ist klar, dass die Industrie ihre Dekarbonisierungsziele nicht allein mit erneuerbaren Energien erreichen kann, da ein großer Teil ihrer Kohlendioxidemissionen bei den Herstellungsprozessen entsteht. Neue Technologien zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS) und zur Kohlenstoffabscheidung und -nutzung (CCU) sowie zur Produktion von Wasserstoff (H2) werden derzeit als die vielversprechendsten Lösungen erforscht.
CCU vs. CCS
Weltweit wurde eine Vielzahl von Technologien für die Abscheidung von Kohlendioxidemissionen und deren Speicherung (CCS) in geologischen Formationen vorgeschlagen, entwickelt und eingesetzt. Die bei industriellen Prozessen anfallenden CO2-Mengen übersteigen jedoch bei weitem die Kapazität bestehender und geplanter Anlagen. Trotz der technischen und wirtschaftlichen Machbarkeit dieser Technologien ist die Einführung von CCS in Deutschland ins Stocken geraten. Medienwirksame Proteste von Umweltverbänden haben zur Absage mehrerer CCS-Pilotprojekte geführt, während Länder wie Norwegen und das Vereinigte Königreich ihre Arbeit vorantreiben. Aber warum stößt CCS in Deutschland auf so viel Widerstand?
Eine Erklärung dafür könnte in den Rahmenbedingungen für diese Technologie liegen. In Deutschland wird CO2 fast ausschließlich als schädliches Treibhausgas dargestellt und wahrgenommen. In Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Norwegen und den Niederlanden ist der Diskurs über die Entwicklung von CCS dagegen positiver. Die Senkung der CO2-Emissionen auf Null bis 2045 ist demnach das ultimative Klimaziel. In Deutschland wird die Sequestrierung von CO2 oft als „künstliches Geoengineering“ bezeichnet, das von der fossilen Industrie vorangetrieben werde, um ihr ein „Weiter-so“ weiter zu ermöglichen. Darüber hinaus gilt CCS als risikoreich für die Umwelt und die menschliche Gesundheit und als teuer.
Im Gegensatz zu CCS wird die Kohlenstoffabscheidung und -nutzung (CCU) im Allgemeinen in einem optimistischeren Licht dargestellt, da sie mit einer Nutzenwahrnehmung verbunden ist: CO2 erscheint als Ressource und nicht als schädliches Treibhausgas, das aus der Atmosphäre oder aus industriellen Prozessen extrahiert und „verbannt“ werden muss, was mit immensen Kosten und Unsicherheiten verbunden ist. Stattdessen gibt uns CCU die Hoffnung, dass wir durch die Wiederverwendung von abgeschiedenem CO2 für die Produktion von z. B. Kunststoffen, Dämmstoffen, Medikamenten oder synthetischen Kraftstoffen wirtschaftliche Gewinne erzielen werden. Tatsächlich ist der Nettonutzen für die Volkswirtschaften, also die Kosten- und Energieeinsparungen, für kohlenstoffintensive Industrien in den verschiedenen Anwendungsfällen jedoch unterschiedlich. Es könnte durchaus sein, dass CCS in einigen Fällen bessere ökologische und wirtschaftliche Ergebnisse liefert. Expertinnen und Experten, die sich mit der industriellen Dekarbonisierung befassen, haben umfassende Lebenszyklus-Studien durchgeführt, um das CO2-Reduktionspotenzial von Dekarbonisierungstechnologien (H2, CCU, CCS) für einzelne Branchen zu ermitteln.
Wasserstoff vs. CCU/CCS
Angesichts der komplexen Unsicherheiten im Zusammenhang mit CCU und CCS wird Wasserstoff oft als praktikablere Lösung zur Ausweitung des Kohlenstoffbudgets dargestellt, da so genannter „grüner Wasserstoff“, der aus erneuerbaren Energien hergestellt wird, einen „sauberen“ Brennstoff und Ausgangsstoff darstellt, der bei der Verbrennung kein CO2 freisetzt. In Deutschland wird Wasserstoff im Allgemeinen positiver gesehen als CCS- oder CCU-Lösungen. Nach der Verabschiedung der Nationalen Wasserstoffstrategie 2020 sind die meisten kohlenstoffintensiven Sektoren (Stahlerzeugung, Luftfahrt, Seeverkehr usw.) sehr daran interessiert, Wasserstoff zu nutzen, um ihre Dekarbonisierungsbemühungen zu beschleunigen. Aber kann Wasserstoff die Erwartungen von Politikerinnen, Politikern und Unternehmen erfüllen?
Wie so oft ist die Realität wohl komplizierter. Derzeit macht grüner Wasserstoff weniger als fünf Prozent der gesamten Wasserstoffproduktion weltweit aus. Angesichts dessen haben viele Expertinnen und Experten vorgeschlagen, die konventionelle Wasserstofferzeugung aus fossilen Brennstoffen mit CCS oder CCU zu koppeln, um einen ersten Schritt in Richtung einer kohlenstoffarmen Wasserstoffwirtschaft zu tun. Außerdem benötigen viele industrielle Prozesse Kohlenstoffverbindungen für die Herstellung ihrer Produkte wie Düngemittel und Harnstoff. Deshalb sind diese technischen Ansätze zur Dekarbonisierung miteinander verwoben, auch wenn sie oft als Alternativen oder sogar als Ersatz füreinander dargestellt werden.
Wasserstoff: Schwierige erste Schritte
Selbst wenn die Produktion von grünem Wasserstoff in größerem Umfang möglich wäre, was die Ersetzung fossiler Brennstoffe ohne die Hilfe von CCU oder CCS erleichtern würde, könnten reale Wasserstoffprojekte immer noch Schwierigkeiten haben, von der Öffentlichkeit akzeptiert zu werden. In der Tat sind die jüngsten Wasserstoffprojekte im Ausland auf ähnlichen Widerstand gestoßen wie die geplanten CCS-Projekte in Deutschland. Im Vereinigten Königreich sind die Planungen für das Whitby Hydrogen Village - das erste wasserstoffbeheizte britische Dorf - nach öffentlichem Protest zum Erliegen gekommen. Obwohl die Idee, die bestehende Erdgasinfrastruktur auf Wasserstoff umzustellen, sowohl technisch als auch wirtschaftlich machbar schien, entwickelte sich das Projekt schnell zu einem PR-Desaster, da lokale Gruppen erhebliche Bedenken sowohl hinsichtlich der Kosten als auch möglicher Sicherheitsrisiken äußerten. Viele der Betroffenen fühlen sich gezwungen, an einem Experiment teilzunehmen, das sie mit veralteten Anlagen und höheren Kosten zurücklassen könnte. Viele waren auch besorgt, dass sich Wasserstoff als gefährlicher als Erdgas erweisen könnte. In einem für die britische Regierung erstellten Bericht wurde von einem vierfach höheren Risiko von Explosionen berichtet. Da der Widerstand in der Bevölkerung nicht nachzulassen scheint, ist die Zukunft des ersten mit Wasserstoff beheizten Wohngebiets in Großbritannien ungewiss.
Obwohl Wasserstoff von Forschenden, Unternehmen und politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern oft als Allheilmittel angepriesen wird, könnte er sich als weitaus kontroverser erweisen als erwartet. Angesichts der Komplexität unserer Wirtschafts- und Energiesysteme und der sich abzeichnenden Klimakrise müssen die CO2-Minderungspotenziale und die Umweltauswirkungen dieser technologischen Lösungen (CCS, CCU und H2) sorgfältig und umfassend bewertet werden, um ihren Einsatz im Instrumentarium der Energiewende zu optimieren.
Kontakt: aliaksei [dot] patonia [at] oxfordenergy [dot] org