Große Widerstände
24.01.2023
Was von der Umweltpolitik der neuen Lula-Regierung in Brasilien zu erwarten ist
Die Themen Umwelt und Klimawandel spielten in der siegreichen Wahlkampagne von Luis Inácio „Lula“ da Silva eine zentrale Rolle. Sie waren auch Merkmale, die einen klaren Unterschied zwischen dem Politiker der Arbeiterpartei und dem im vergangenen Oktober abgewählten amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro ausmachten. Die Erstürmung des Obersten Gerichtshofs, des Nationalkongresses und des Präsidentschaftspalastes durch Bolsonaro-Anhänger am 8. Januar – und die Kräfte, die dahintersteckten – verdeutlichte, wo die Umweltagenda der neuen Regierung auf die größten Widerstände stoßen wird: beim Agro-Business und Militär.
Bereits während der ersten beiden Amtsperioden von Lula in den Jahren 2003 bis 2010 war die Umweltpolitik eine Priorität. Unter Umweltministerin Marina Silva trugen verbesserte Gesetze und ein Moratorium, das dem Anbau von Soja auf gerodeten Regenwaldflächen Einhalt gebot, dazu bei, in Brasilien die Abholzung von 2005 bis 2012 um 70 Prozent gegenüber den vorangehenden zehn Jahren zu verringern. Silva sorgte auch für die Einführung von Transparenzregeln, die der Zivilgesellschaft Zugang zu den Daten über die Entwaldung verschafften.
Das katastrophale Erbe der rechtsextremen Vorgängerregierung zu bewältigen, wird eine riesige Aufgabe für die neue Regierung sein. Der Schlüssel für die Umweltagenda liegt darin, die Widerstände einzudämmen – also die Politik, die die Abholzung der Wälder als unvermeidlichen Preis für Entwicklung darstellt, wie es während der Bolsonaro-Jahre der Fall war. Der Würgegriff, in dem das Agrobusiness die brasilianische Politik hält und das ausgedehnte ideologische und administrative Engagement der Streitkräfte in Bezug auf den Amazonas werden sich aber nicht so leicht eindämmen lassen.
Zu Beginn von Lulas dritter Amtszeit als Präsident von Brasilien ragen die Probleme um den Amazonas heraus. Die „Savannisierung“ des Regenwaldes ist bereits voll im Gang. In einem kürzlich vorgestellten Bericht des Informationsnetzwerks zur sozioökonomischen Entwicklung der Amazonas-Region (RAISG) heißt es: „Wenn der gegenwärtige Trend zur Entwaldung anhält, wird der Amazonas, wie wir ihn kennen, das Jahr 2025 nicht erleben.“ In seiner Antrittsrede vor dem Kongress entwickelte Präsident Lula die Vision für Brasilien als „Umweltmacht“.
Weiterhin kündigte er eine Reihe von Dekreten an, die einige der Anordnungen der Bolsonaro-Regierung rückgängig machen: Von dieser wurde der Zugang zu Waffen ausgeweitet, die Abholzung intensiviert und die Transparenz behindert. Die meisten dieser Entscheidungen waren während der ersten anderthalb Jahre der Covid-19-Pandemie getroffen worden, als die Bolsonaro-Regierung die instabile Situation ausnutzte, um die Lockerung von Umweltnormen zu verschleiern.
Unter Lula werden zwei Ministerien für die Umweltpolitik verantwortlich sein: das in Ministerium für Umwelt und Klimawandel umbenannte und das neue Ministerium für die indigenen Völker. Lula und seine frühere Umweltministerin Marina Silva haben sich während der Kampagne zur Präsidentschaftswahl nach Jahren der Entfremdung wieder angenähert.
Silva, die in den 80ern eng mit dem 1988 von Großgrundbesitzern ermordeten Kautschukzapfer und Landarbeitergewerkschafter Chico Mendes zusammengewirkt hatte und als erste Kautschukzapferin überhaupt in den Senat gewählt worden war, war 2003 mit der Leitung des Umweltministeriums betraut worden. Aufgrund von Differenzen während Lulas zweiter Amtszeit wegen der Priorisierung von Infrastrukturprojekten und der Interessen der Agrarindustrie im Amazonas trat sie 2008 von ihrem Amt zurück. Am 1. Januar wurde Silva als neue Ministerin für Umwelt und Klimawandel nominiert.
Sonia Guajajara, eine indigene Aktivistin und Umweltschützerin, wurde zur ersten Ministerin für die indigenen Völker Brasiliens ernannt. Joênia Wapichana, die 2018 als erste indigene Frau in Brasiliens Kongress gewählt wurde, rückt an die Spitze der Behörde für die Angelegenheiten der indigenen Völker. Der Physiker Ricardo Galvão, den Bolsonaro als Direktor des Nationalen Instituts für Weltraumforschung gefeuert hatte, soll neuer Chef des Nationalen Rats für Forschung und Entwicklung werden. Diese Nominierungen unterstreichen, dass Lula Umweltfragen wieder ins Zentrum gerückt hat.
Die politische Stärke des Agrobusiness zeigt sich am deutlichsten im Nationalkongress, wo der Block der Landbesitzer einen enormen Einfluss auf die Gestaltung und Kontrolle der Politik ausübt. Um den Gesetzgebungsprozess zugunsten der Großgrundbesitzer und des Agrarsektors zu beeinflussen, nutzt diese Fraktion ihren politischen Einfluss, um staatliche Institutionen in Beschlag zu nehmen und Maßnahmen zu implementieren, die Landrechte, das Arbeitsrecht, die öffentliche Gesundheit, indigene Rechte und den Umweltschutz direkt attackieren.
Die Agrarlobby im Parlament hat Bolsonaro treu unterstützt, was er mit einer ihr extrem freundlich gesonnenen Politik erwiderte. Doch die Stärke der Interessenvertreter des Extraktivismus und der Agrarindustrie innerhalb der politischen Institutionen Brasiliens rührt vor allem daher, dass die Exekutive darauf angewiesen ist, eine parlamentarische Koalition zu bilden, mit der sie ihre legislative Agenda durchsetzen und Versuche einer Amtsenthebung des Regierungschefs abwehren kann. Der neue Landwirtschaftsminister, Senator Carlos Fávaro, ist ein straffer Parteigänger des Agrobusiness.
Nach Einschätzung des Anthrophologen Piero Leirner trieben diejenigen, die sich an den Ausschreitungen Anfang Januar in Brasília beteiligten, unterschiedliche Motive an. Aber ein Ziel hatten sie gemeinsam: den Ruf nach den Streitkräften als Retter, der den Rechtsstaat wieder herstellt. Leirner weist darauf hin, dass viele Reservisten und deren Angehörige in der putschistischen Bewegung aktiv seien. Die rechtsextreme Radikalisierung von Sicherheitskräften spiegelt tief verwurzelte autoritäre Tendenzen in der brasilianischen Gesellschaft wider. Das Agrobusiness und das Militär – Schlüsselakteure der Vorgänge in Brasília vom 8. Januar – sind Pfähle im Fleisch der neuen Lula-Regierung.
Zur Basis der Gegenaktivisten gehören auch das Agrobusiness, das die rechtsextremen Protestcamps vor Kasernen finanziert hat, und die Sicherheitskräfte, die diese unterstützt und sich an diesen beteiligt haben. Es wird der Regierung nichts nützen, sie sich einfach wegzuwünschen. Gleichzeitig wird sie den wachsenden Druck von Klimaaktivisten, indigenen Gemeinschaften und anderen Gruppen, die Klimamaßnahmen fordern, zu spüren bekommen.
Lulas ehrgeizige Klimaschutzagenda widerspricht der strukturellen Macht des Sektors der Agrarier in Brasilien und ist mit seiner entwicklungspolitischen Erfolgsbilanz ebenso wenig zu versöhnen wie mit dem gewachsenen Gewicht des Militärs. Um wirtschaftliches Wachstum von der Missachtung der Umwelt abzukoppeln, müssen fest etablierte Interessen infrage- statt zufriedengestellt werden. Für seine politische Zukunft und die Zukunft Brasiliens, muss Lula seine versöhnliche Haltung ablegen, mit der er versucht, Umweltaktivisten und Gegenkräfte zu beschwichtigen.
Übersetzung: Peter Steiniger
Dieser Artikel erschien zuerst am 20. Januar 2023 auf ND aktuell.