Schulden in Klimaschutzmaßnahmen umwandeln: Ein Ansatz des Globalen Südens für den Kampf gegen den Klimawandel
17.10.2022
Dieses Jahr hat überdeutlich gezeigt, dass wir uns der Klimakatastrophe viel schneller nähern als bisher angenommen. Überschwemmungen, Hitzewellen und Waldbrände auf der ganzen Welt haben Tausende von Menschenleben gekostet und die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen zerstört. Gleichzeitig mangelt es nach wie vor an globaler Zusammenarbeit im Kampf gegen den Klimawandel. Im Gegenteil, infolge der unerwarteten weltweiten Energieverknappung im vergangenen Jahr und des damit verbundenen sprunghaften Anstiegs der Energiepreise untergraben die Regierungen des Globalen Nordens ihre eigenen Ziele zur Verringerung der CO2-Emissionen. So haben sich viele Länder, als Reaktion auf die Krise, wieder der Kohle, der Kernkraft und dem Fracking-Gas zugewandt. Diese Wiederbelebung fossiler Brennstoffe ist besonders ungerecht für Länder des globalen Südens, wo große Teile der Bevölkerung nicht einmal Zugang zu einer stabilen Energieversorgung haben.
Ein großes Hemmnis für die Länder des Globalen Südens sind die steigenden Staatsschulden. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) sind mehr als die Hälfte der ärmsten Länder der Welt faktisch bankrott oder nur einen Schritt davon entfernt. Die Covid-19-Pandemie, die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise und die vom US-Dollar getriebenen Zinserhöhungen drängen die ärmsten Länder der Welt in eine Schuldenspirale. Angesichts steigender Defizite sind sie gezwungen, weiterhin ihre letzten Ressourcen abzubauen, um die Forderungen ihrer Gläubiger zu erfüllen.
Die „Debt for Climate“-Bewegung geht dieses Problem an, indem sie den vollständigen Erlass der Schulden der Länder des Globalen Südens fordert. Esteban Servat, einer der führenden Aktivisten der Bewegung, war im August unser Gast in der Vortragsreihe „Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Der gebürtige Argentinier arbeitete rund zehn Jahre lang für Biotechnologieunternehmen im Silicon Valley. Desillusioniert von den Realitäten der privaten Gesundheitsindustrie, kehrte er in sein Heimatland zurück, um ein multikulturelles, regeneratives Ökodorf zu gründen. Allerdings musste er das Land verlassen, nachdem er Fracking und Bergbauprojekte in seiner Heimatprovinz Vaca Muerta, Mendoza, angeprangert hatte.
Medien
Esteban Servat: Climate Crisis Activism from a Southern Perspective
Vor diesem Hintergrund hat Esteban, der heute in Berlin lebt, die kolonialen Wurzeln des globalen Schuldensystems nachgezeichnet: „Die Ausplünderung des globalen Südens wurde zunächst durch Invasionen und Armeen betrieben, aber heute und seit dem 20. Jahrhundert wird sie hauptsächlich durch Schulden erreicht.“ In seinem Vortrag beschrieb er das so: „Bei der Klimaschuld geht es nicht nur um CO2- und Methanemissionen. Bei der Klimaschuld geht es auch um die Wiedergutmachung von Verlusten und Schäden, die dem Globalen Süden als Ergebnis von 500 Jahren Ausbeutung, Kolonialisierung und Versklavung von einem Großteil der Welt geschuldet werden.“ Der Globale Norden ist in Institutionen wie der Weltbank und dem IWF überrepräsentiert. Da der Globale Norden für die meisten historischen CO2-Emissionen verantwortlich ist und der Globale Süden die Hauptlast der Klimakrise trägt, besteht auch eine ökologische Schuld. Esteban sagte: „Kein Land des Globalen Südens kann sich eine Energiewende leisten, solange wir 50 bis 80 Cent von jedem Dollar, den wir verdienen, an den IWF oder die Weltbank zahlen - ein Mechanismus des Kolonialismus, der als 'Schuldenfallendiplomatie' bekannt ist.“
Esteban merkte an, dass die „Debt for Climate“-Kampagne es verschiedenen sozialen Bewegungen ermöglicht, sich für ein gemeinsames Ziel zu organisieren. Ein Hindernis, das er in der globalen Klimabewegung beobachtet, ist der fehlende Einfluss auf politische Entscheidungsträger, da Umweltthemen oft von marginalisierten Gruppen wie Jugendlichen oder indigenen Gemeinschaften vorangetrieben werden. Esteban erklärte: „Wir brauchen die Arbeiter*innen nicht nur, weil es keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit gibt, sondern auch, weil die Arbeiter*innen der Welt die Expert*innen für Klassenkämpfe sind.“ Die „Debt for Climate“-Kampagne zeigt, wie sich die Klimabewegung mit der Arbeiter*innenbewegung und den Gewerkschaften zusammenschließen kann, die daran interessiert sind, die vorherrschenden wirtschaftlichen Richtlinien zu ändern und durch die Organisation von Streiks und Massenprotesten über wirksame Mittel verfügen, dies zu erreichen. „Die Fähigkeit sich zu organisieren und gewerkschaftlich auszurichten, ist genau das, was es ihnen ermöglicht - wann immer sie für ihre Rechte oder ihre Löhne kämpfen müssen - die Wirtschaft lahmzulegen", betonte Esteban und fügte hinzu: „Durch die Verbindung von Schulden und Klima ist es uns gelungen Tausende von Arbeiter*innen auf die Straße zu bringen."
Während diese Strategie im Globalen Süden erfolgreich sein könnte, ist es unklar, inwieweit sich die Arbeiter*innenbewegung im Globalen Norden für gemeinsame Ziele mit der Klimabewegung einsetzen wird. Wie Esteban während seines Vortrags sagte: Die „Debt für Climate“-Initiative ist eine „südzentrische“ Bewegung. „Wenn wir den Globalen Süden und den Globalen Norden vereinen, können wir den Wandel herbeiführen, den wir brauchen, um etwas Gerechtigkeit in die Agenda der Klimagerechtigkeit zu bringen", sagte Esteban. Nichtsdestotrotz liegt der Reiz der „Debt for Climate“-Bewegung darin, dass sie eine klare Strategie vorschlägt, um den Status quo herauszufordern – und das in Zeiten, in denen viele die Hoffnung aufgegeben haben, dass die Politik den Klimawandels wirksam eindämmen kann und der Klimaaktivismus und die Basisbewegungen in eine Sackgasse geraten zu sein scheinen. „Es ist dringend notwendig, dass wir aus der Blase des Klimaaktivismus ausbrechen", warnte er. „Es geht darum, Schulden in Klimaschutzmaßnahmen zu verwandeln.“
Während die Fridays-for-Future-Bewegung Millionen von Menschen mobilisieren konnte, wurden ihre Forderungen von den führenden Politiker*innen der Welt weitgehend ignoriert. Was dem Klimaaktivismus oft fehlt, ist eine Theorie des Wandels, d. h. die Frage, wie Proteste in tatsächlichen politischen Wandel übertragen werden können. Die “Debt for Climate“-Bewegung wirft die Frage auf, wo die wirkliche politische Macht liegt. Wie Esteban sagte: „Wir können nicht zulassen, dass diese Ungerechtigkeit weiter besteht. Wir können nicht zulassen, dass die Regierungen des Globalen Nordens so tun, als wären sie blind für die Realität, die sie jeden Tag schaffen. Sie haben die Macht, die Schulden zu streichen, sie haben die Macht, das Knie vom Nacken des globalen Südens zu nehmen."