Das "Wicked Problem" der Covid-19-Pandemie
08.04.2020
Der Ausbruch des neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) wird praktisch jeden Menschen auf der Erde direkt oder indirekt betreffen. Viele werden an der durch den Coronavirus verursachten Infektionskrankheit Covid-19 sterben, andere werden Menschen verlieren, die ihnen nahe stehen. Aufgrund der umfangreichen physischen Distanzierungsmaßnahmen werden viele weitere Menschen andere Schwierigkeiten erleben – psychologische, soziale und finanzielle. Zwar mag es einige vermeintliche "positive Nebenwirkungen" geben, wie etwa eine vorübergehende Verringerung der Luftverschmutzung und des CO2-Ausstoßes oder die Chance für einige, ihr Leben zu entschleunigen und ihre Lebensweise zu überdenken. Aber in der Bilanz sind die Auswirkungen bereits jetzt eine enorme Herausforderung für die ganze Welt und sie werden sich voraussichtlich noch deutlich vergrößern, bevor die Pandemie vorbei ist.
Die drohende, aber unbekannte Gefahr durch die rasche Ausbreitung von SARS-CoV-2 und die umfangreichen physischen Distanzierungsmaßnahmen, die als Reaktion darauf durchgeführt werden, führen zu vielen schwierigen Fragen. In diesem Artikel werde ich auf drei davon eingehen:
- Wie stellt sich die Coronavirus-Situation im Vergleich zum Klimawandel und anderen großen gesellschaftlichen Herausforderungen dar?
- Sind die umfangreichen physischen Distanzierungsmaßnahmen wirklich gerechtfertigt?
- Besteht die Chance, "vorwärts zum Besseren" statt "zurück zur Normalität" (oder sogar zum Schlechteren) zu gelangen?
Wie stellt sich die Coronavirus-Situation im Vergleich zum Klimawandel und anderen großen gesellschaftlichen Herausforderungen dar?
In gewisser Weise ähneln die Diskussion über die Gefahren der Covid-19-Pandemie und die ergriffenen Gegenmaßnahmen den Diskussionen über Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels oder anderen Umweltschäden, wie z.B. Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung. Wichtiger Unterschied: Die Auswirkungen dieser Umweltprobleme erstrecken sich auf viel längere Zeiträume als die der Covid-19-Pandemie. In beiden Fällen vergleichbar ist hingegen die Notwendigkeit einer effektiven Kommunikation zwischen und mit einer Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen (einschließlich der Forschung). Im Falle des Klimawandels wurden bereits umfangreiche Erfahrungen mit wirksamen (und manchmal nicht so wirksamen) Kommunikationsformen gesammelt, die bei den dringend erforderlichen Diskussionen über die Covid-19-Pandemie hilfreich sein können. Umgekehrt können die Erfahrungen, die während der Coronakrise in den nächsten Monaten gemacht werden, sich als wertvoll für die Kommunikation über den Klimawandel und andere Formen der Umweltschädigung erweisen. Insbesondere, wenn es durch plötzliche Umweltveränderungen, die unerwartet oder sehr unwahrscheinlich sind, zu einer so genannten "Klima-Notfallsituation" kommt, wie sie z.B. ein Kollaps des westantarktischen Eisschildes verursachen könnte.
Bei der Debatte um Klimaschutzmaßnahmen liefern Szenarien wertvolle Informationen. Dabei wird berechnet, wie das Klimasystem auf verschiedene Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen von klimaschädlichen Gasen und Partikeln, insbesondere CO2, reagieren würde. Diese Szenarien sind Teil einer Vielzahl von Studien und Bewertungen, insbesondere der Berichte des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC). Auch für die mögliche Ausbreitung von SARS-CoV-2 und die weitere Entwicklung der Covid-19-Pandemie liegen Informationen auf der Grundlage epidemiologischer Szenariostudien für Deutschland und andere Länder vor, die beispielsweise vom Robert-Koch-Institut (RKI) und der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie für Deutschland sowie für Großbritannien und die USA vom Imperial College London durchgeführt wurden. Obwohl sehr kurzfristig zusammengestellt, handelt es sich um qualitativ hochwertige wissenschaftliche Studien, bei denen ausgiebig getestete Computermodelle verwendet werden, die für die Simulation der Ausbreitung von Influenza und anderen ähnlichen Krankheiten entwickelt wurden.
In beiden Fällen sind diese Szenariostudien wissenschaftlich komplex und in der Regel voller Fachjargon, der die Modellgleichungen und die Auswahl der Modellparameter beschreibt. Sie sind daher nicht sehr einladend zu lesen. Im Falle des Klimawandels sind oft sogar die politischen Entscheidungsträger und Aktivistengruppen nicht mit den Details dieser Studien vertraut, z.B. mit den extremen Annahmen, die getroffen wurden, um Szenarien für eine globale Erwärmung unter 2°C hinzubekommen. Dies führt zu dem Problem, auf das wir im vergangenen Jahr in der Zeitschrift Science hingewiesen haben: Es werden teilweise ehrgeizige Ziele gesetzt, ohne wirklich zu verstehen, was erforderlich ist, um sie zu erreichen, oder wie realistisch es ist, die notwendigen Bedingungen zu erfüllen. Und da das Erreichen dieser Ziele in der Regel erhebliche gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringen würde, hängt eine erfolgreiche Umsetzung oft davon ab, mit einer umfangreichen öffentlichen Debatte über diese Annahmen und Anforderungen eine breite Akzeptanz zu erreichen.
Zur Unterstützung dieser Debatte sollten die wichtigsten Informationen leichter zugänglich sein als sie es in Form der wissenschaftlichen Originalberichte sind. Notwendig ist eine Vielzahl von Formaten für verschiedene Zielgruppen, so dass möglichst viele Menschen die Schlüsselbotschaften verstehen und sie sich mit ihnen identifizieren können.
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht darum, dass "die Wissenschaft uns die Wahrheit sagt" oder dass auf der Grundlage solcher "Wahrheiten" eindeutig klar werde, was wir tun sollten. Das könnte bestenfalls bei relativ einfachen Fragen funktionieren, z.B. wo man eine Wetterstation oder eine Station zur Messung der Luftqualität aufstellen sollte, um repräsentative Daten zu erhalten (obwohl selbst dann können Fragen wie Eigentumsrechte die Dinge verkomplizieren). Aber für komplexe Herausforderungen, wie z.B. die Bedrohungen durch die Covid-19-Pandemie und den Klimawandel (und viele andere ähnlich komplexe Herausforderungen des Anthropozäns), gibt es nicht die eine, "richtige" Antwort oder Perspektive. Vielmehr existieren sehr viele verschiedene Sichtweisen und Abwägungen, die von den Werten und Normen der beteiligten Personen und Gesellschaften abhängen.
Sind die umfangreichen physischen Distanzierungsmaßnahmen wirklich gerechtfertigt?
Vor diesem Hintergrund komme ich zu der Frage, ob die derzeitigen Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie gerechtfertigt sind. Wie im Falle des Klimawandels – und vieler anderer hochkomplexer und miteinander verbundener gesellschaftlicher Herausforderungen, die von der Wissenschaft oft als "wicked problems" bezeichnet werden – gibt es keine allgemein richtige oder falsche Antwort auf die Frage, ob Gegenmaßnahmen wirklich gerechtfertigt sind, und niemand weiß, was eine "optimale Lösung" wäre. Es kommt darauf an, wie man verschiedene Risiken und Vorteile gegeneinander abwägt. Zum Beispiel für Sie persönlich: Sind die getroffenen Maßnahmen gerechtfertigt, weil sie viele zusätzlichen Todesfälle durch Covid-19 und die extreme Belastung des Gesundheitssystems (und unseres sozialen Gewissens) verhindern oder wiegen großen, negativen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Maßnahmen (die wiederum auch Auswirkungen auf Gesundheit und Sterblichkeit haben können) schwerer? Die Frage zeigt, wie groß die Herausforderung ist, vor die Politik steht. Die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger müssen entscheiden: Welche sozialen und wirtschaftlichen Kosten der physischen Distanzierungsmaßnahmen sollen in Kauf genommen werden, um wie viele Todesfälle zu verhindern? Erschwerend kommt hinzu, dass diese Entscheidungen sehr schnell getroffen werden müssen, so dass wenig Zeit für eine angemessene Debatte bleibt.
Darüber hinaus werden die damit verbundenen sozialen und gesundheitlichen Kosten oft vernachlässigt, so dass der Vergleich übervereinfacht als nur zwischen wirtschaftlichen Indikatoren und Menschenleben wahrgenommen wird. In dieser Form ist die Fragestellung natürlich höchst problematisch. In der Politik müssen jedoch solche Vergleiche oft vorgenommen werden, um verschiedene mögliche Maßnahmen (auch die Option des Nichtstuns) zu diskutieren und zu begründen. Diese Vergleiche und Begründungen müssen dann häufig noch unterschiedlich kommuniziert werden, damit sie zu verschiedenen Weltbildern passen und eine breite Akzeptanz erreichen können – was die Komplexität noch erhöht.
Eine weitere Herausforderung liegt in den verfügbaren Informationen. Eine Vielzahl von Faktoren muss gegeneinander abgewogen werden. Auf der einen Seite stehen die Anzahl der zu erwartenden Todesfälle, die möglichen dauerhaften physischen und psychischen Probleme von Überlebenden schwerer Fälle von Covid-19, die Auswirkungen auf das Gesundheitspersonal und Gesundheitssystem sowie die Folgen für das gesamte soziale Gefüge aufgrund der hohen Zahl der Todesfälle. Auf der anderen Seite stehen die Auswirkungen auf unsere Lebensweise, auf Produktivität und die Arbeitsplätze, das Einkommen, die Ersparnisse und die psychische und soziale Gesundheit von Millionen von Menschen in Deutschland und möglicherweise sogar von Milliarden von Menschen weltweit. Hinzukommen eine mögliche Zunahme anderer Gesundheitsprobleme und unnötiger Todesfälle aufgrund verminderter Kapazitäten des Gesundheitssystems sowie die allgemeinen Auswirkungen auf die Volkswirtschaften und, auch hier, auf das gesamte soziale Gefüge. Wissenschaftliche und medizinische Forschungseinrichtungen haben bereits damit begonnen, erste Erkenntnisse zu einigen dieser Themen zu entwickeln.
Die erwähnten epidemiologischen Studien geben uns beispielsweise wertvolle erste Einblicke in einen der kritischsten Parameter: Wie viele zusätzliche Todesfälle werden durch die physischen Distanzierungsmaßnahmen verhindert? Die Modellsimulationen des RKI und anderer umfassen typischerweise ein sogenanntes „world avoided“ Szenario, in dem überhaupt nichts getan wird und das Virus ungehindert seinen Lauf nimmt. Obwohl nur hypothetisch, sind solche Szenarien hilfreich bei der Beurteilung der Frage, ob Vorsichtsmaßnahmen bei „wicked problems“ wie der Covid-19-Pandemie gerechtfertigt sind. Die RKI-Studie kam auf der Grundlage des derzeitigen Wissens über die Ausbreitung von SARS-CoV-2 und des Anteils an schweren und tödlichen Fälle zu dem Ergebnis, dass wenn nichts dagegen unternommen würde, wir allein in Deutschland in den nächsten Monaten mit mindestens 200.000 bis 350.000 Todesfällen durch Covid-19 rechnen müssten, je nachdem, ob das Virus eine starke Saisonalität aufweist und ob ein Teil der Bevölkerung eine angeborene Immunität besitzt (weitere Einzelheiten siehe hier [1]). Die tatsächliche Zahl der Todesfälle wäre wahrscheinlich viel höher, da die angenommene Zahl schwerer Fälle und Todesfälle am unteren Ende der in anderen Studien vorgenommenen Schätzungen liegt. Weiterhin würde die Zahl der nach den Berechnungen der Studie benötigten Intensivbetten die in Deutschland verfügbare Zahl bei weitem überstiegen, so dass viele Patienten nicht die erforderliche Behandlung mit Beatmungsgeräten erhalten könnten. Man hätte also in Deutschland innerhalb weniger Monate mit bis zu 500.000 oder sogar noch mehr Todesfällen allein durch Covid-19 rechnen müssen, wenn nichts getan worden wäre, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Zum Vergleich: In Deutschland sterben an allen anderen Ursachen jedes Jahr knapp eine Million Menschen. Im „world avoided“ Szenario hätte sich die durchschnittliche Sterblichkeitsrate während der Pandemieperiode vermutlich mehr als verdoppelt.
Glücklicherweise dürfte die tatsächliche Zahl der Todesfälle durch Covid-19 aufgrund der frühzeitigen und umfassenden Reaktionen den deutschen Bundes- und Landesregierungen wesentlich geringer ausfallen. Die Szenariostudien zeigen, dass Maßnahmen zur physischen Distanzierung die Gesamtzahl der Todesfälle sowie die Anzahl der gleichzeitig benötigten Intensivbetten deutlich reduzieren können. Um dies zu erreichen, müssten diese Maßnahmen allerdings über einen langen Zeitraum durchgeführt werden, der sich möglicherweise über das nächste halbe bis ein Jahr erstrecken könnte (möglicherweise mit Unterbrechungen, insbesondere wenn eine starke Saisonalität von SARS-CoV-2 besteht und die Maßnahmen während des Sommers gelockert werden könnten, um sie im Winter wieder zu verstärken, bis hoffentlich ein Impfstoff verfügbar ist). Dieser lange Zeitraum macht deutlich, wie schwerwiegend die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Präventivmaßnahmen sein dürften. Leider tappen wir bei der Quantifizierung solcher sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen noch weitgehend im Dunkeln. Während Epidemiologen auf mehrere frühere Fälle von Epidemien und Pandemien zurückgreifen können, auf die sie ihre Modelle stützen können, gibt es in der Geschichte der Menschheit keinen bekannten Präzedenzfall für vergleichbare, nahezu globale physische Distanzierungsmaßnahmen, die als gute Grundlage für die Abschätzung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen dienen könnten.
Dennoch arbeiten Soziologen, Psychologen, Ökonomen und viele andere Forscherinnen und Forscher weltweit intensiv an der Analyse der Situation und nutzen dabei die verfügbaren Informationen und wissenschaftlichen Erkenntnisse. Im Gegensatz zu den kurzen politischen Zeiträumen dauern solche wissenschaftlichen Studien, die auf völlig neues Terrain vorstoßen, leider in der Regel Monate bis Jahre, um zu Ergebnissen zu kommen, die annähernd so zuverlässig sind wie die epidemiologischen Studien des RKI und anderer. Diese wissenschaftliche Unsicherheit bei den Schätzungen, wie groß die negativen Auswirkungen der Maßnahmen sein werden, erhöht die Komplexität der Abwägung von Nutzen und Kosten der getroffenen Maßnahmen. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass "wissenschaftliche Unsicherheit" nicht bedeutet, "wir wissen es nicht". Es bedeutet statt dessen, dass es eine begrenzte Bandbreite möglicher Ergebnisse gibt, wie z.B. der Spanne von 200.000 bis etwa 500.000 Todesfällen in dem zuvor diskutierten „world avoided“ Szenario. So schwierig es sein mag, die verschiedenen Auswirkungen genau zu quantifizieren, so sicher wissen wir doch, dass die Auswirkungen auf das Leben und die Lebensgrundlagen der Menschen sowie auf das soziale Gefüge und die Wirtschaft auf der ganzen Welt bereits jetzt immens sind, wahrscheinlich noch größer werden und sich bisher eindeutig überwiegend negativ auf den Großteil der Weltbevölkerung auswirken. Wie eingangs erwähnt: Diese Pandemie wird praktisch jeden Menschen auf der Erde direkt oder indirekt betreffen.
Gibt es eine Chance, "vorwärts zum Besseren" statt "zurück zur Normalität" zu gelangen?
Ein wichtiger Punkt, der die Covid-19-Pandemie zu einem „wicked problem“ macht, ist: Es gibt keine Lösung, die nicht in irgendeiner Form extreme Verluste mit sich bringt. Die Frage ist nicht, ob und was es in dieser Situation zu gewinnen gibt, sondern nur, wie wir die Verluste gegeneinander abwägen, wenn wir Entscheidungen treffen, wie wir diese Krise angehen wollen. Es gibt jedoch einen Hoffnungsschimmer: Während die Situation derzeit mit Verlusten für die große Mehrheit der Weltbevölkerung verbunden sein wird, besteht eine kleine, aber reale Möglichkeit, dass der Schmerz und das Leid in dieser Situation langfristig mehr als kompensiert werden können, wenn dadurch ein Impuls entsteht, um gesellschaftliche Strukturen, die für die Weltbevölkerung insgesamt nachhaltig und besser sind, zu entwickeln. Anstatt "zurück zur Normalität" (oder für viele Menschen sogar zu Schlimmeren), können wir vielleicht "vorwärts zum Besseren" gehen, wenn diese Krise vorbei ist.
Das wäre keineswegs einfach, insbesondere nicht für die vielen Menschen weltweit, deren soziale und finanzielle Existenz durch diese Krise bedroht oder gar ausgelöscht wird. Es verlangt von denjenigen, die privilegiert genug sind, um diese Krise ohne existenzielle Verluste zu überstehen, diesen schwierigen Impuls umzusetzen und für umfassende Veränderungen in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung zu sorgen. Erforderlich dafür wären die kontinuierliche Entwicklung "transdisziplinärer", "ko-kreativer" und "transformativer" Forschungsprozesse, die unsere Arbeit am IASS kennzeichnen. Diese Forschungsmethoden beziehen Perspektiven und Stimmen aus einem breiten Spektrum gesellschaftlicher Gruppen ein, darunter politische Entscheidungsträgerinnen und -träger, Aktivisten, Industrie und Gewerkschaften, Vertreterinnen und Vertreter religiöser Gruppen, Forscherinnen und Forscher sowie Vertreterinnen und Vertreter der breiten Öffentlichkeit. Diese verschiedenen Perspektiven und Stimmen müssen in die umfangreichen Verhandlungsprozesse zur Gestaltung einer solchen Welt einbezogen werden.
Diese Perspektive mag etwas weit hergeholt sein. Aber sollten wir nicht zumindest versuchen, diese Krise zunächst gemeinsam – möglichst menschlich und solidarisch – zu überwinden und uns danach auf den Weg machen, gesellschaftliche Strukturen zu entwickeln, die nicht nur widerstandsfähiger sind, besonders gegen andere mögliche zukünftige Schocks (durch Klimawandel, multiresistente Bakterien und andere aufkommende Bedrohungen), sondern auch auf mehr Solidarität aufbauen und der Weltbevölkerung insgesamt bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen bieten? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Meine Antwort darauf ist eindeutig: "Ja – bitte finden Sie mit mir gemeinsam heraus, wie das gehen kann, und unterstützen wir uns gegenseitig bei den notwendigen harten Schritten!“
[1] Nachtrag: Epidemiologische Szenariostudie Details
Die im Blog besprochenen epidemiologischen Studien basieren auf dem derzeitigen Kenntnisstand über die Ausbreitung von SARS-CoV-2 und den Anteil der schweren und tödlichen Fälle. Die Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) hat berechnet, dass allein in Deutschland in den nächsten Monaten mindestens 350.000 Todesfälle aufgrund von Covid-19 zu erwarten wären, wenn das Virus eine schwache Saisonalität aufweist (d.h. wenn es sich im Sommer wie im Winter ausbreitet und die gleichen Auswirkungen hat), oder mindestens 250.000 Todesfälle (meist in den ersten Monaten des nächsten Winters), wenn es eine sehr starke Saisonalität aufweist. In der Studie wird auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ein Drittel der Bevölkerung eine angeborene (bereits bestehende) Immunität gegen die Krankheit hat, was die Zahl der zu erwartenden Todesfälle auf etwa 250.000 bei keiner Saisonalität und knapp 200.000 bei starker Saisonalität reduzieren würde. Die tatsächliche Zahl der Todesfälle dürfte jedoch in all diesen Fällen wesentlich höher liegen. Erstens gehen die Modellsimulationen von einem konstanten Anteil von 50% Todesfällen bei den Fällen aus, die Intensivbetten benötigen, und dass 4,5% der Fälle mit Symptomen eine stationäre Behandlung benötigen, wobei ein Viertel davon (d.h. etwas mehr als 1% aller Fälle) Intensivbetten benötigt (basierend auf den Erkenntnissen aus der COVID-19-Progression in anderen Ländern und den Unterschieden im demographischen Altersprofil in Deutschland im Vergleich zu diesen Ländern). Es wird dabei vermerkt, dass diese Werte am unteren Ende der Schätzungen anderer Szenariostudien, wie z.B. der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGE), liegen. Darüber hinaus wären auf dem Höhepunkt der Infektionen über 120.000 Intensivpflegebetten (und das entsprechende Personal) erforderlich, wenn keine Saisonalität vorliegt, während bei einer starken Saisonalität der Höhepunkt bei über 80.000 Intensivpflegebetten läge (die Werte wären entsprechend niedriger, wenn ein Teil der Bevölkerung eine angeborene Immunität hat). Dies kann mit den 30.000 Intensivbetten verglichen werden, die derzeit in Deutschland zur Verfügung stehen (mit möglicherweise 10.000 bis 20.000 weiteren, die in den nächsten Wochen oder Monaten hinzukommen könnten). Nach dem Bericht der DGE sind die 30.000 Intensivbetten bereits größtenteils in Gebrauch und werden noch für Patienten mit anderen Erkrankungen als COVID-19 benötigt, z.B. Herzinfarkte, Schlaganfälle und Autounfälle. In diesem Fall würde die Zahl der Patienten, die Intensivbetten benötigen, wahrscheinlich bis zu einigen Monaten die Zahl der verfügbaren Betten übersteigen – wie es in Italien und anderen Ländern bereits tragisch ist. Und da in diesem Extremfall die meisten Patienten nicht intensivmedizinisch versorgt werden könnten, wäre der Anteil der Sterbefälle deutlich höher als die angenommenen 50%, so dass in Deutschland allein durch COVID-19 innerhalb weniger Monate mit bis zu 500.000 oder möglicherweise sogar noch mehr Todesfällen zu rechnen wäre. Zum Vergleich: Zwischen 2015 und 2018 lag die Zahl der jährlichen Todesfälle in Deutschland aufgrund aller anderen Ursachen zusammengenommen zwischen 910.000 und 955.000 (für 2019 liegen die Daten noch nicht vor).