Schluss mit falschen Hoffnungen: Warum Klimafatalismus schwere, aber lebenswichtige Kost ist
01.10.2019
Jonathan Franzen zieht mit seinem Essay über die „Klimaapokalypse“ viel Kritik auf sich. Seine fatalistische Haltung ist unbequem, könnte für unser Denken und Handeln aber fruchtbarer sein als unrealistischer Optimismus.
Am 8. September 2019 veröffentlichte The New Yorker einen Meinungsbeitrag von Jonathan Franzen mit dem Titel „What If We Stopped Pretending? The climate apocalypse is coming. To prepare for it, we need to admit that we can’t prevent it” („Was wäre, wenn wir aufhörten, uns etwas vorzumachen? Die Klimaapokalypse kommt. Um uns darauf vorzubereiten, müssen wir zugeben, dass wir sie nicht verhindern können“, eigene Übersetzung). Der Beitrag spricht schwer verdauliche Wahrheiten aus, an die zu glauben allen Menschen, insbesondere aber der Wissenschaft, widerstrebt.
Die unerbittliche Geschwindigkeit, mit der überall auf der Welt die Temperaturen der Meere und der Atmosphäre Rekorde brechen, erinnert ständig daran, dass der Klimawandel schon im Gange ist. Die steigenden Temperaturen machen sich in unserem empfindlichen Klimasystem bereits deutlich bemerkbar: Dürren, Überschwemmungen, Wildfeuer und Stürme werden extremer – die massiven Zerstörungen durch den Hurrikan Dorian auf den Bahamas sind nur das jüngste Beispiel dafür. Doch auch in unseren Breiten ist der Klimawandel spürbar: Die Rekordhitzewellen in Mitteleuropa im letzten Sommer sind ein unheilvolles Vorzeichen dafür, wie sich bei einem Anstieg der Durchschnittstemperatur um 2 °C Mitte des Jahrhunderts normale Sommer anfühlen könnten.
Viel schlimmer als befürchtet
Die jüngsten Erkenntnisse der weltweiten Klimaforschung sind ein weiterer Grund zur Sorge. Wissenschaftliche Analysen der Geschwindigkeit, mit der die Permafrostböden in Kanada und Russland auftauen, beschreiben Zustände, die den Klimamodellen zufolge erst 2090 eintreten dürften. Permafrostböden und die damit zusammenhängenden Ökosysteme spielen eine wichtige Rolle – nicht nur wegen ihrer CO2-Speicherkapazität, sondern auch, weil sie das unkontrollierte Fortschreiten des Klimawandels unumkehrbar machen können. Denn wenn Permafrostböden in massivem Umfang auftauen, werden riesige Mengen gebundenes, gefrorenes Methan freigesetzt. Dieses Treibhausgas wirkt viermal stärker als Kohlenstoffdioxid und verursacht dadurch eine überproportional starke Klimaerwärmung. Wenn wir die menschlichen Treibhausgasemissionen nicht deutlich verringern, werden sich die Permafrostböden bis zum Jahr 2100 wahrscheinlich von einer CO2-Senke zu einer Nettoquelle von Treibhausgasen verwandeln. Außerdem griff die erwähnte Hitzewelle, die dieses Jahr in Europa alle Rekorde brach, anschließend auf Grönland über. In der Folge tauten die dortigen wichtigen Gletscher und Eisschilde im Sommer so stark auf wie erst einmal zuvor (im Jahr 2012).
Der Klimawandel wird bleiben
Angesichts der konkreten, erdrückenden Beweislast würde man erwarten, dass die Weltgemeinschaft gemeinsame Anstrengungen unternimmt, um sich systematisch zu verändern und die CO2-Emissionen rasch zu verringern. Doch zwischen Erwartungen und Realität klafft eine gewaltige Lücke: Im Jahr 2018 stiegen die CO2-Emissionen um 2,7 % auf das höchste Niveau aller Zeiten – ohne jedes Anzeichen für eine Verringerung. Kurz gesagt: Der Klimawandel ist da, er vollzieht sich schneller, als von der Klimawissenschaft vorhergesagt, und die Weltgemeinschaft tut nicht annähernd genug, um ihn zu bremsen.
Die Wirklichkeit einer wärmeren Welt annehmen
Warum verdient der Artikel von Franzen in diesem Zusammenhang eine besondere Erwähnung? Franzen äußert die fatalistische Meinung, ein radikaler Kampf gegen den Klimawandel sei nur so lange sinnvoll gewesen, wie er noch zu gewinnen war. Mit anderen Worten: Alle Menschen sollten die Unausweichlichkeit einer um 2 °C wärmeren Welt akzeptieren – wer dieses Szenario nur als eines von vielen möglichen Zukunftsszenarien einordnet, handelt unverantwortlich naiv. Und: Wer auf ein Happy End hofft, wird durch seinen Optimismus blind für die Realität der absoluten klimapolitischen Untätigkeit der letzten 30 Jahre.
Falscher Klimaoptimismus als eine Form der Verdrängung
Zwar lassen Franzens klimawissenschaftliche Kenntnisse deutlich zu wünschen übrig (so behauptet er beispielsweise, langfristig mache es wahrscheinlich keinen Unterschied, wie stark die zwei Grad überschritten werden; ab einem bestimmten Punkt werde sich die Erde von allein weiterverändern), aber mit seiner Forderung, wir sollten die Wahrheit über unsere Zukunft akzeptieren, hat er recht. Vielleicht sollten wir tatsächlich nicht mehr davon sprechen, „unseren Planeten zu retten“ und den Klimawandel „anzuhalten“ oder gar „umzukehren“, und die neue, unausweichliche Realität verinnerlichen: Unsere gemeinsame globale Zivilisation wird auf einem Planeten mit komplett anderem Klima leben.
Doch wie würden wir damit umgehen, wenn wir diese Wahrheit akzeptieren?
Ich weiß es wirklich nicht. Niemand weiß, wie die menschlichen Gesellschaften auf den Druck durch den Klimawandel reagieren werden. Sind sie in der Lage, ihre Reaktionen auf die zunehmende gesellschaftliche Entropie klug zu steuern und schließlich würdevoll zu kollabieren? Oder werden sie zulassen, dass die Instabilität so lange zunimmt, bis sie an ihrem Höhepunkt die globale Gesellschaft zerreißt? Franzen ist der Meinung, wir sollten das Paradigma der Apokalypse frühzeitig annehmen. Er empfiehlt uns, eigennütziger an uns selbst und an uns nahestehende Menschen zu denken und dabei unsere Ziele auf den unausweichlichen gesellschaftlichen Zusammenbruch auszurichten:
Und tatsächlich ist lokales Handeln eine entscheidende Komponente für erfolgreichen Klimaschutz. Nicht nur, weil diese Anstrengungen konkretere Ergebnisse hervorbringen, sondern auch, weil selbst der kleinste Erfolg die Entschlossenheit stärkt, noch mehr zu tun. Dennoch dürfen wir unter keinen Umständen die globale Perspektive aufgeben. Ohne sie verlieren wir, was uns vereint: unsere gemeinsame Menschlichkeit. Global denken, lokal handeln.
Die Apokalypse hinauszögern
Unsere wertvollste Ressource angesichts des Klimawandels ist jetzt die Zeit. Wir müssen sie so effizient und human wie möglich nutzen, um das in unserer Macht Stehende zu erreichen und die Klimaapokalypse weiter hinauszuzögern. Sie ist wahrscheinlich unvermeidbar, aber unsere Verantwortung ist es, ihren Eintritt zu verzögern und uns auf eine Art darauf vorzubereiten, die von Kooperation, Empathie und Solidarität geprägt ist. Am wichtigsten aber ist, wie Franzen schreibt: „Solange man etwas liebt, hat man einen Grund zur Hoffnung“ (eigene Übersetzung).